Ein Mann in Kompression: 45 Jahre Kaschieren, Verstecken, Schweigen

Wenn ich mich zurück erinnere, hatte bei uns im Elternhaus gegenüber eine korpulente ältere Frau dicke Beine. Sie hatte rötliche Haare und tausend Sommersprossen im Gesicht. Miele war immer nett zu uns Kindern, rief uns zu sich rüber und gab uns Süßigkeiten. Dann jammerte sie immer mal über ihre schweren dicken Beine, die auch schon mal gewickelt waren. Sie war eine Seele von Mensch.

Mit 13 Jahren änderte sich alles

Als kleiner Junge ahnte ich damals nicht, dass es mir einige Jahre später ähnlich ergehen sollte, denn in der Pubertät – mit 13 Jahren – musste ich mich von heute auf morgen von meinen normalen Beinen verabschieden.
Dabei war ich im Dorf bekannt, mit speckigen Lederhosen herum zu laufen oder im Sommerregen mit Badehose und Gummistiefel durch die Pfützen zu hüpfen.

Mit Ausbruch des ersten Erysipels zeitgleich an den rechten und linken Unterschenkeln und Füße mit 13 Jahren wäre ich damals bestimmt bald „Hops“ gegangen.

Denn die Mediziner konnten zu der Zeit mit dem hohen Fieber, Schüttelfrost und heißen, knallrot gefärbten Beinen nichts anfangen. Die Beine waren voller Wasser, prall angeschwollen und die Leisten (Lymphknoten) schmerzten. Nach rund zehn Tagen war die Entzündung deutlich zurück gegangen, aber die dicken Beine blieben – leider für immer!

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Abschied von den „Kurzen Hosen“ und „Bermudas“

Ab jetzt folgte ein Spießrutenlauf im Schwimmbad beim Schwimmunterricht, damit man von den Mitschülern nicht verspottet wurde. Früher seppelte ich bei jedem Sonnenstrahl ins Freibad oder an den See, jetzt versteckte ich mit einem langen Handtuch meine Beine und ging auch gleich ins Wasser damit ich möglichst von niemanden gesehen werde. Nach dem Schwimmen waren die Beine etwas dünner. Trotzdem versteckte ich sie, hockte auf der Wiese im Schneidersitz. An einer Pommes Bude mit Badehose anstehen – und alle glotzen auf die Beine … niemals! Gleiches vermied ich bei dem Anstehen von Wasserrutsche oder Sprungbrett.


Beim Schuhkauf, das war auch so ne Sache, da schlugen die Verkäuferinnen die Hände über den Kopf zusammen:

„Was haben Sie für dicke Füße und Beine!“

Also ging ich den Verkäufern aus dem Weg. Bis Heute hat sich eigentlich wenig geändert. Ich rede nicht gerne über meine Krankheit oder zeige meine dicken Beine. Es ist immer wieder im Sommer ein Bedürfnis eine kurze Hose oder Bermuda zu tragen, schicke Sneaker dazu. Oder Fahrrad zu fahren mit ner 3/4 Hose – Leider geht das nicht für mich.

Es gibt so kleine Inseln wie Reha Aufenthalte, da spricht man unter Patienten über die Krankheit, den Umgang, Tipps … Wobei ich nie einen gleich gelagerten Krankheitsfall wie ich ihn habe, finden konnte. Primäres Lymphödem beider Beine, vererbt, genetisch bedingt.

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Der Mann in Kompression, dritter v. l.

Hier bin ich, der Mann in Kompression

Im Herbst 2017 hat mich eine Mitarbeiterin von Medi kontaktiert, ob ich bereit wäre über meine Krankheit zu schreiben ggf. auch Fotos einzureichen. Nun, Schreiben geht, aber Fotos von den Beinen? Da musste ich erst mal darüber nachdenken. Und dann schrieb ich mitten im Thailand Urlaub. Ja, ich habe auch tatsächlich ein Foto angefügt, wo ich auf dem Bett sitze und nach dem Duschen die Kompressionsstrümpfe anziehe. Da war ich echt mutig.

Medi fragte mich im weiteren Verlauf ob ich bereit wäre mit weiteren Betroffenen im Frühjahr 2019 an einer Werbekampagne in München teilzunehmen. Hierzu gehörte Interviews zu geben und die Bereitschaft, sich in Flachstrickversorgung fotografieren zu lassen.

Damit löste das Unternehmen bei mir etwas aus. Also soll ich tatsächlich den Mut aufbringen, meine Krankheit zur Schau zu stellen? Meine dicken Beine der Welt zeigen? Schwere Entscheidung, doch ich wurde zu nichts überredet, die Grenzen bei dem Shooting würde ich festlegen.

Meine Unsicherheit wich dem Stolz

Ganz klar war für mich: Niemals kurze Hosen, noch nicht mal Bermudas. Dazu war ich sonst nicht bereit und bei einem öffentlichen Shooting erst recht nicht. Ich konnte mich anfreunden, dass eine Jeans mal hochgekrempelt wurde, mehr nicht. Später, wo ich die Gruppe auf dem Werbeplakat gesehen habe, war ich ambivalent. Gehört das so? Die perfekte Modewelt präsentiert nur das Perfekte, und wir? Wir zeigen der Welt fröhlich unsere Handicaps in bunter Vielfalt. Es wandelte sich bei mir und ich war auch ein klein bisschen Stolz darüber.

Warum ich so verhalten war oder noch bin, weiß ich nicht. Vielleicht hat es was mit Leistungsfähigkeit in der Gesellschaft zu tun, nach dem Motto:

„Wer bremst, verliert.“

Muss ich als Mann in Kompression meine Krankheit / Behinderung zur Schau stellen? Sich selbst eingestehen, nicht makellos zu sein? Nicht zu erfüllen was die Gesellschaft scheinbar vorgibt, oder ist es nur eine Kopfsache? Warum gestehe ich mir nicht zu, am Flughafen am Counter zu stehen, mit kurzer Hose, dicken Beinen in Kompression und Strohhut? Vielleicht finde ich noch eine Antwort.

Mutmacher

Die Girls von Medi machen mir, bzw. uns Patienten da schon Mut zu sich selbst zu stehen. Zu seinem Handicap und zu den heute tollen Farben und Mustern der Kompressionsstrümpfe. Wie eine Schnecke komme ich mehr und mehr aus meinem Schneckenhaus heraus und versuche als 56-jähriger Mann in Kompression zu meinem Ödem zu stehen.

Eins würde ich heute auf jeden Fall ändern: Wenn ich nochmal die zeit zurück drehen könnte und junger Familienvater wäre, würde ich Barbie und Ken aus dem Kinderzimmer verbannen. Wir geben als Erziehungsberechtigte vor, was Norm und Abnorm ist. In den Zeiten von Inklusion und Gleichberechtigung sollten wir tatsächlich soweit sein, selbst zu uns zu stehen, alles Makellose als Einzelfall zu sehen. Denn wer hat schon keine Handikaps? ich persönlich glaube, dass dann ungeahnte Türen aufgehen.


PS.: Ich wäre auf die Gesichter gespannt, wenn ich als junger Papa meinen beiden Mädchen anstatt Barbie und Ken, zwei Mumien in Bandagen ins Kinderzimmer gestellt hätte … .

Herzliche Grüße aus Hessen
Jürgen


Fragen oder Austausch gern unter: Juergen.Jakob@t-online.de

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Author: Jürgen Jakob

Jürgen (54) aus Hessen, glücklich verheiratet, zwei erwachsene Mädels, tätig beim Regierungspräsidium Gießen, Abteilung VII Flüchtlingsangelegenheiten. Primäres Lymphödem beider Beine.

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  • Lieber Jürgen,
    mit grossem Interesse habe ich die Darstellung Deines Leidens- Lebens- und Entwicklungsweges gelesen und mir spontan gedacht: “ Wow, ich bin sehr beeindruckt von Deinem Mut und Deiner Entwicklung. Ich selbst bin von dem Thema nicht betroffen, aber ich erlebe es hautnah bei meiner Frau die ein Lymphödem hat und immer mit dem Thema Flachstrickversorgung, passender Kleidungsstil und dem Umgang mit der Problematik z.B. bei extremer Hitze umgehen muss. Ganz zu schweigen von den tollen Kommentaren der sogenannten „Freunde“ die meiner Frau stets bescheinigten zu viel zu essen oder zu wenig Sport zu treiben. Dabei habe bisher nur selten einen Menschen getroffen der so eine Selbstdisziplin aufbringt wie meine Frau in puncto Ernährung, Sport oder bei dem Tragen der Flachstrickkompression. Tja der äussere Schein… . Ich finde es wichtig, gerade auch als Mann, zu seinen Handicaps zu stehen und diese und sich nicht zu verstecken. Zudem wird in der sogenannten „Männerwelt“ über Einschränkungen oder Handicaps und die damit verbundenen Gefühle noch weitaus weniger gesprochen als in der „Frauenwelt“. Jeder Mann, der sich traut über sich selbst zu schreiben, vor allem über seine innere Entwicklung zu schreiben und dies öffentlich zu machen, hilft anderen Männern damit den gleichen Weg zu gehen. Ich denke wir Männer brauchen dies genauso wie die Frauen und es tut uns einfach nur gut! Bitte lasse Dich von Deiner Vorgehensweise nicht abbringen! Ich wünsche Dir viel Mut und Entschlossenheit!

    Liebe Grüsse aus Franken
    Andreas